Wie lebt man mit dem Wissen, dass das eigene Kind schwerkrank ist und keine Chance auf Heilung hat? Zum Tag der seltenen Erkrankungen am 29. Februar bricht die Familie Müller (alle Namen zum Schutz der Privatsphäre geändert) aus dem Landkreis Eichstätt ihr Schweigen. Das Schicksal hat sie besonders hart getroffen, denn bei den Müllers gibt es gleich zwei Kinder, die das 18. Lebensjahr vermutlich nicht erleben werden.
Sabine hat bereits einen gesunden Sohn, als sie erneut schwanger wird. Zum damaligen Zeitpunkt wussten weder sie noch ihr Mann, dass sie beide stiller Träger einer seltenen Stoffwechselerkrankung sind. Ihr Sohn Paul kommt mit 52cm und 3300 Gramm zur Welt. Augenscheinlich gesund. „Bei den ersten U-Untersuchungen hat unsere Kinderärztin uns darauf aufmerksam gemacht, dass Pauls Kopf unverhältnismäßig groß ist“, erinnert sich Sabine. „Rückblickend sind wir ihr unfassbar dankbar, dass sie so zeitnah weitere Untersuchungen veranlasst hat.“ Und dann kam der 25. Januar 2019 – der Tag, der das Leben der Familie für immer auf den Kopf stellen sollte. „Paul war zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt, seine kleine Schwester Marie acht Monate alt. An diesem Tag haben wir erfahren, dass unser Sohn an der seltenen, genetischen Stoffwechselerkrankung namens Mukopolysaccharidose Typ IIIa leidet, auch bekannt als Sanfilippo-Syndrom Typ A. Diese Erkrankung führt zu einer Ansammlung von Zuckermolekülen, die normalerweise im Körper abgebaut werden. Bei Menschen mit Mukopolysaccharidose Typ IIIa kommt es aufgrund eines Enzymmangels zu einer Anhäufung dieser Moleküle in verschiedenen Geweben und Organen. Bei Paul ist hauptsächlich das Gehirn betroffen.“
Sabine und ihr Mann hören, dass ihnen die Kinderärztin schonend erklärt, dass Paul schon in jungen Jahren sterben wird, denn Heilung gibt es für die Mukopolysaccharidose Typ IIIa nicht. „Ich war in dem Moment gar nicht mehr aufnahmefähig. Ich habe zwar gehört, was die Ärztin uns erklärt hat, wahrhaben wollte ich es aber nicht.“ Die Familie zieht sich zurück, versucht die Diagnose zu akzeptieren. Sabine weiß, dass Mukopolysaccharidose Typ IIIa äußerst selten ist, nur eins von 60.000 Kindern in Deutschland ist betroffen. Und dennoch fängt sie an, ihre kleine Tochter ganz genau zu beobachten. Sie braucht Klarheit, möchte wissen, ob auch Marie krank ist. Ein Bluttest bringt schlussendlich die Gewissheit: Auch Marie leidet an der seltenen Stoffwechselerkrankung.
Der Alltag muss weitergehen
Der Alltag verlangt der Familie viel ab: Die Geschwister sind hyperaktiv, beide sind schwerhörig und dadurch sehr laut. Krankheitsbedingt können Marie und Paul keine Gefahren einschätzen. Lässt man sie einen Moment aus den Augen, rennen sie los. Deshalb sind im Haus alle Fenster- und Türgriffe abmontiert – zum Schutz der Kinder. Abends weinen Paul und seine Schwester sehr viel, ehe sie einschlafen. Marie wacht mehrfach die Woche nachts auf, ist dann bis zu drei Stunden wach. „Das schlaucht schon ganz schön“, gibt die Mutter offen und ehrlich zu. „Denn unser Alltag muss ja trotzdem irgendwie weitergehen. Die Kinder sind zwar in einer Regens-Wagner-Einrichtung, wo sie den Kindergarten bzw. die Schule besuchen. Aber diese vermeintlich freie Zeit nutze ich für den Papierkram, den das Dasein als pflegende Angehörige mit sich bringt.“ Immer im Nacken hat Sabine Müller auch die Angst und die bange Frage, wie viel Zeit ihr mit Paul und Marie noch bleibt. „Wir haben Kontakt zu anderen betroffenen Familien. Viele Kinder werden nicht älter als 13 Jahre. Paul ist mittlerweile 7, Marie 5. Die Zeit, sie arbeitet einfach gegen uns“, sagt Sabine mit Tränen in den Augen.
Im Laufe der Zeit werden sich die Kinder immer weiter verändern, denn genau das ist das Tückische an der Krankheit. „Paul und Marie verlernen nach und nach die Dinge, die sie einmal gekonnt haben: Laufen, sprechen, essen. Aber eben auch überlebensnotwendige Dinge wie Schleim abhusten und letztlich auch das Atmen.“ Paul baut aktuell motorisch immer mehr ab, das Laufen fällt ihm schwer, seit letzten Sommer hat er zusätzlich epileptische Anfälle. Marie wird immer stiller, mittlerweile kommen ihr nur noch zehn Wörter über ihre Lippen. Das bedeutet für die Eltern auch, dass ihre Kinder ihnen immer weniger sagen können, wo sie Schmerzen haben. Die Ursachensuche wird dadurch umso schwerer. Hinzukommt, dass viele Ärzte das Krankheitsbild nicht genau kennen, sagt Mama Sabine.
Familie Müller hat sich mit der Krankheit ihrer Kinder arrangiert, sie führen laut eigener Aussage ein glückliches Leben, obwohl das Damoklesschwert immer über ihnen schwebt. „Wir versuchen das Beste aus unserer Situation zu machen – für und mit unseren Kindern. Wir konzentrieren uns auf das hier und heute, auch wenn es nicht immer leichtfällt, die Ängste und Sorgen beiseite zu schieben“, gesteht Sabine Müller, die froh ist, die gemeinnützige Organisation ELISA Familiennachsorge an ihrer Seite zu wissen. „Ich habe zwischendurch auch immer wieder schwere Tage. Da reicht ein Anruf bei unseren Ansprechpartnern von ELISA Familiennachsorge. Auch bei sozialrechtlichen Fragen ist die gemeinnützige Organisation immer für uns da. Wir sind froh und dankbar, dass ELISA uns auf unserem Weg begleitet.“ Auch dafür, dass sie immer auf ihre Schwester zählen kann, ist Sabine Müller unfassbar dankbar.
Der Weg der Müllers ist oft steinig. So mancher Weggefährte hat sich im Laufe der Zeit von der Familie abgewandt. Sabine Müller hat größtem Respekt vor jedem Menschen, der sie oder ihren Mann gezielt auf Paul und Marie anspricht und wirklich Interesse zeigt. Gerne beantwortet sie dann auch aufkommende Fragen. Nur auf eine Frage hat die 41-Jährige keine Antwort: „Ich frage mich oft, warum es so etwas Schlimmes wie Mukopolysaccharidose Typ IIIa überhaupt gibt. Kinder haben doch eigentlich noch das ganze Leben vor sich.“