Den 24. Februar 2022 wird Valeriia Matsibora nie vergessen. Es ist der Tag, an dem in ihrer ukrainischen Heimat der Krieg ausbricht. Anlässlich des heutigen Weltflüchtlingstag erzählt die 31-Jährige von ihrer Flucht nach Deutschland und von den zwei Herzen, die trotz ihres neuen Zuhauses in Ingolstadt noch immer in ihrer Brust schlagen.
Dmytro ist acht Jahre alt. Der blonde Junge wurde 2015 in Kiew geboren, noch im Kreißsaal muss er reanimiert werden. Danach wird er in einem Krankenhaus in Kiew auf der neonatalen Intensivstation über eine Woche beatmet, ehe seine Mama Valeriia mit ihrem Sohn nach Hause darf. Schon im Säuglingsalter zeigen sich bei Dima, wie er liebevoll von seiner Mama genannt wird, zerebrale Krampfanfälle. Also Anfälle, die vom Gehirn ausgehen und oft mit Muskelzuckungen einhergehen. Die Ärzte diagnostizieren ihm eine schwere geistige und motorische Entwicklungsverzögerung. Bis heute kann Dima nicht sprechen, nicht nach Gegenständen greifen.
Keine Betreuungsmöglichkeit für Dima in der Ukraine
In der Ukraine wohnt Dmytro mit seiner Mama in einem Haus in Kiew, der Vater verlässt die kleine Familie, als sein Sohn ein Jahr alt ist. Seitdem gibt es keinen Kontakt mehr, Valeriia und Dmytro sind auf sich allein gestellt. „In der Ukraine werden kranke Kinder nicht sozialisiert“, erklärt die 31-Jährige, die vor Dmytros Geburt als Polizistin gearbeitet hat. „Ein krankes Kind zu haben bedeutet, dass sich das Leben fast ausschließlich in den eigenen vier Wänden abspielt.“ Einen Kindergarten oder gar eine Schule hat Dima in der Ukraine deshalb nie besucht.
Als der Krieg in der Ukraine im Februar 2022 beginnt, müssen Valeriia und Dima immer öfters Schutz im Keller suchen und dort stundenlang ausharren. Dmytro spürt die Angst seiner Mutter, er hat damals viel geweint. „Für mich war es wahnsinnig beängstigend ohne Medikamente und Essen für Dima mit ihm im Keller zu sitzen. Zu dieser Zeit wurde es immer schwieriger, an seine lebenswichtigen Medikamente zu kommen.“ Der Krieg, er rückt von Tag zu Tag näher. Über Kiew werden Raketen abgeschossen, die Splitter töten viele unschuldige Menschen. Der Mann von Valeriias Freundin stirbt mit gerade einmal 30 Jahren, er hinterlässt einen dreijährigen Sohn.
Stiefvater verhilft Valeriia und Dima zur Flucht
Es ist Valeriias Stiefvater, der der 31-Jährigen die Chance auf ein neues Leben bietet. „Eines Tages sagte er zu mir: Wenn du dich entscheidest, irgendwo anders hinzugehen, werde ich dich überall hinbringen“. Im März 2022 ist es soweit: Einen Monat nach Ausbruch des Krieges fährt er Valeriia und ihren Sohn von Kiew aus nach Polen in ein Auffanglager. Für ihn selbst geht die Reise zurück nach Kiew – dort lebt er bis heute zusammen mit Valeriias Mutter und ihrer kleinen Schwester. Er möchte die Ukraine nicht verlassen, ist sie doch seine Heimat. Im polnischen Auffanglager trifft Valeriia auf Eduard, einen ehrenamtlichen Helfer, der der jungen Frau anbietet, sie noch am gleichen Tag nach Deutschland zu bringen. Ohne zu wissen, was sie dort erwartet, steigt Valeriia gemeinsam mit Dima, seinem Kinderwagen und einer Tasche voller Sachen in den 9-Sitzer. Für Dima ist die Fahrt sehr anstrengend. Er kann aufgrund seiner Krankheit nicht lange sitzen, deshalb hält Valeriia ihn fast die ganze Fahrt über in den Armen. Unterwegs machen sie Halt an der Tankstelle, damit sich die Reisenden mit Essen und Trinken eindecken können. Valeriia kann den Bus wegen des schlafenden Jungens nicht verlassen. Mitten in der Nacht erreichen sie das Gut Aufeld in Hagau, es ist das letzte Etappenziel, das an diesem Tag angesteuert wird. Am Ziel angekommen verspürt Valeriia in erster Linie eins: Dankbarkeit darüber, dass sie in Sicherheit ist, dass es hier keinen Krieg gibt.
Heute, ein Jahr später, haben sich Dima und seine Mutter gut in Ingolstadt eingelebt. Sie wohnen mittlerweile in Ingolstadt. Beide haben einen geregelten Tagesablauf und zwischenzeitlich Freunde gefunden. Der Achtjährige geht in Sankt Vinzenz zur Schule, Valeriia lernt fleißig Deutsch. Und sie genießt die Tatsache, dass sie jetzt auch mal Freizeit hat – wobei das anfangs gar nicht so leicht war. „Ich habe den ganzen ersten Monat als Dima in der Schule war, ständig auf die Uhr geschaut und überhaupt nichts mit mir anzufangen gewusst“. Kein Wunder: Die junge Frau kannte so etwas wie Freizeit nicht. In der Ukraine war sie 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche auf sich allein gestellt. Valeriia möchte gern wieder arbeiten, jetzt, wo auch Dimas Betreuung sichergestellt ist. Gesundheitlich blüht Dima regelrecht auf. In der Kinderklinik Neuburg hat er eine PEG-Sonde bekommen – seitdem wird er darüber ernährt. In der Ukraine war dies nicht möglich; dort musste Dima sehr umständlich und langwierig mit Babybrei gefüttert werden. Zugenommen hat er dort nicht.
ELISA Familiennachsorge als wichtige Stütze im Alltag
Im Alltag wird die kleine Familie durch die gemeinnützige Organisation ELISA Familiennachsorge betreut. Das Team PalliKids behält Dimas Gesundheitszustand im Blick. Im September wird Dima an der Hüfte operiert, um ihm dauerhaft die Schmerzen zu nehmen, die von seiner Hüftfehlstellung herrühren. Das PalliKids-Team ist Ansprechpartner, wenn gesundheitliche Probleme auftreten oder neue Medikamente ein dosiert werden müssen, neue Hilfsmittel notwendig bzw. Rezepte benötigt werden. Die Abteilung Offene Behindertenarbeit, kurz OBA, unterstützt bei allen sozialrechtlichen Fragen und bürokratischen Hürden. Sie hat Dimas Mutter unter anderem bei der Beantragung eines Pflegegrads und des Schwerbehindertenausweises geholfen. Auch der Elisa-eigene ambulante Kinder- und Jugendhospizdienst arbeitet eng mit der Familie zusammen. „Elisa war unsere Rettung. Die Mitarbeiter vermitteln mir den Eindruck, dass ich nicht länger auf mich allein gestellt bin. Zwischen unserem Leben in der Ukraine und unserem Leben hier in Ingolstadt liegen Welten“, erzählt Valeriia Matisbora. „Und doch bin ich im Herzen noch in der Ukraine zuhause. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht die Nachrichten aus meiner alten Heimat verfolge oder an meine Familie in Kiew denke“, sagt die junge Frau und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Ob sie jemals wieder zurück nach Kiew geht, weiß sie noch nicht. „Ich weiß, dass Dima hier in Deutschland viel mehr Möglichkeiten hat. Ich weiß, dass er nie ganz gesund sein wird, aber hier wird er angenommen wie er ist“. Deshalb schlagen in Valeriias Brust aktuell noch zwei Herzen – und das obwohl sie in Ingolstadt ein zweites Zuhause gefunden hat. Aktuell sucht die Familie nach einer neuen Wohnung in Ingolstadt. Dazu Elisa-Geschäftsführerin Nadine Dier: „Wir wünschen uns, dass Valeriia und Dima eine Wohnung finden, die ihnen genügend Platz für die medizinische und ganzheitliche Versorgung von Dima bietet. Aktuell ist dies leider nicht gegeben“, so Nadine Dier von ELISA Familiennachsorge.